Arbeiten auf Papier
Obere Galerie
21. April – 19. Mai 2024
„Was passiert nachts unterm Futterplatz?
Die Wildkamera enthüllt es und erklärt doch nichts, denn sie sieht nicht alles …
Die frei nach ihren Aufnahmen entstandenen Kohlezeichnungen, entfernen sich von Blatt zu Blatt mehr und mehr von der Realität, wirken teilweise wie aus einem unruhigen Traum gelöst.
In malerischen Momenten verbindet sich das Tier nahezu mit der Dunkelheit, wird gewissermaßen selbst zur Nacht.
Der direkt auf den Betrachter gerichtete Blick und die verfremdete Gestalt des anfangs vielleicht noch niedlich wirkenden Tieres rufen bisweilen beunruhigende Momente hervor.
Außerdem erschließen die oft abwegig gewählten Titel neue Zusammenhänge.
Geheimnisvolle Gedankenwelten tun sich auf, vielleicht …“
Vera Kattler; Text zu der Serie: „Nachts unterm Futterplatz“
„Eingebunden in die kunsthistorische Tradition und doch ganz unverwechselbar, mit Bravour und bemerkenswerter Konsequenz entwickelt Vera Kattler in ihren am Gegenständlichen orientierten, seriellen Werkkonzepten aus den Bildmotiven heraus Varianten vorstellbarer Wahrscheinlichkeiten. Dabei verhindern Undurchschaubarkeit und Ambivalenz eine leichtfertige Interpretation. Ihre verstörenden, eine Mischung aus Faszination und Schauder evozierenden Metamorphosen hinterfragen kritisch unseren Umgang mit der Präsenz des Anderen und unser Bewusstsein vom Fremden in uns.“
Petra Wilhelmy (https://institut-aktuelle-kunst.de/kuenstlerlexikon/kattler-vera)
Vita:
Zur Finissage am 19. Mai um 15 Uhr trägt die Verlegerin und Autorin Julia Kulewatz exklusiv erste, noch unveröffentlichte Gedichte aus ihrem aktuell entstehenden Lyrikband „O Nyx. Nachtgedichte” vor, der im September diesen Jahres, begleitet von den Kohlezeichnungen aus Vera Kattlers Serie „Nachts unterm Futterplatz”, erscheinen wird.
Vera Kattler
Wahrscheinlichkeiten
zur Eröffnung der Ausstellung im Künstlerhaus Göttingen
Herzlich willkommen im Künstlerhaus mit den Arbeiten von Vera Kattler, die uns in Bewegung versetzen möchten, wie sie bewegende Momente sichtbar berührbar machen und gestalterisch reflektieren… für den Augenblick und darüber hinaus. Wie sie immer wieder die Schattenräume von Körpern erhellen und deren umtriebige Untiefen keineswegs verbergen, auch nicht in ihren bedrohlichen oder gar brutal zerstörerischen Aspekten, und dass in ihnen gleichwohl so viel Sanftes schimmert, Anmut, Grazie und Schönheit. Bei Licht betrachtet dürfen sie in Formen und Deformationen sichtbar austreiben und Wahrscheinlichkeiten bilden, die keiner animalischen Zuschreibung bedürfen, es sei denn als schöpferische Wesen. die sich auf Papier materialisieren und dabei einfach nicht innehalten wollen
Vorab noch eine Anmerkung zum Titel der Ausstellung. Von der Wahrscheinlichkeit heißt es, sie sei ein allgemeines Maß der Erwartung für ein unsicheres Ereignis. In dieser Definition wird das Ereignis besonders hervorgehoben. „Im ursprünglichen Sinne des deutschen Wortes Ereignis“ heißt es, es handele es sich um ein Geschehen, dass vor Augen tritt und „eräugt“ wird. Dass jedoch von der Beobachtung von Ereignissen auch dann gesprochen werde, wenn sie auf andere Wege erfahren werden als nur visuell.
Wir haben es also mit einem wunderbar vieldeutigen Titel zu tun, der in dieser Ausstellung eine ganz zentrale Frage impliziert. Wie wird ein Ereignis künstlerisch beobachtet, wahrgenommen, reflektiert, imaginiert und im schöpferischen Prozess mitteilbar gemacht?
Mit den Worten „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ hat Heinrich von Kleist einen seiner Briefessays überschrieben. Für mich spricht daraus auch das künstlerische Credo von Vera Kattler… Über die Verfertigung der Imagination im Beobachten, Befragen und Vertiefen von Augenblicken und Anblicken von Lebewesen in der Nahaufnahme. Und das auch mit der Aufforderung an uns als Betrachtende, auf ihren Seh- und Suchspuren aufmerksam zu irrlichtern und für all die irritierenden Impulse den vertrauten, fokussierenden Tunnelblick weiträumig zu meiden.
Hier im großen Saal mit den Kohlezeichnungen aus der Serie „Nachts unterm Futterplatz“ werden Sie einem Motiv mit dem Titel „Alles aus einer Haut“ begegnen und vielleicht einen ganz anderen Titel im Sinn haben oder Vera Kattlers zeichnerisch inspirierendes Gedankenbild „Atme Licht ins Dunkel“ in weiteren Studien einer Momentaufnahme wahrnehmen. Machen Sie sich auf die Suche nach dem „seltsamen Fingerspiel“ auf der Werkliste, um sich dann über die „Salatschüssel“ zu wundern und warum sie sich jetzt nicht einfach sichtbar macht zwischen Gesten und Grimassen, Krallen und Augenpaaren, diesen mehrköpfigen Wesen, der samtigen Anmutung von wärmendem Fell oder einem anrührenden Blick. Auch das „Lob der Versuchung“ verweigert sich möglicherweise Ihren Vermutungen über das, was uns die Künstlerin auf der Kohlezeichnung entdeckt.
Geisterbeschwörer waren „Nachts unter dem Futterplatz“ vermutlich ebenfalls umtriebig, wo Vera Kattler deren erhellenden und finsteren Obsessionen in bizarren und gleichwohl vertrauten Masken mit ihren Zeichnungen verwebte… wo der homo animalis den homo sapiens bereits durchdrungen hat und jetzt mit gieriger Fratze als homo bestialis posiert. Fast so wie ihn Karl Krauss in seiner dramatischen Kriegschronik „Die letzten Tage der Menschheit“ in einem Aufgebot von „Larven und Lemuren“ vernahm. Die lassen sich auch in einem Ausschnitt aus der Serie „Unklare Verwandtschaften“ im Eingangsbereich lokalisieren, die allerdinge demonstrativ ihr Veto bekunden. Schließlich ist es oft genug der ansehnlich makellose Schein, mit dem sich zerstörerisch wütende Kräfte ummanteln, und nicht die Gesichtslandschaft mit ihren Verwerfungen und Deformationen.
Aber auch Peter Handkes literarische Anamnese einer „Innenwelt der Augenwelt der Innenwelt“ spricht aus diesen Nachtgeschöpfen unter dem Futterplatz, die – von biologischen Kategorisierungen befreit – ein Eigenleben entwickeln und darin auch in einem mehrdeutigen Naturkontext bestärkt werden. Mit ihnen verhält es sich ähnlich wie mit den physisch fassbaren organischen Realitäten, die sich hier in den Wahrscheinlichkeiten von Körperwelten materialisieren. Sie bilden ein Deutungslabyrinth von rätselhaften Chiffren, die den Bildraum auch zu zum Bildtraum für subkutane Gedankensplitter und assoziative Kräfte werden lassen.
Es gibt eine Vorgeschichte zu diesen Nachtaufnahmen am Futterplatz, wo die Wildkamera Vögel und Mäuse, Insekten, Kriechtiere und Krabbler im pflanzlichen Dickicht sichtbar oder schemenhaft erfasst und später auf einer Wiese installiert, auch Füchse, Marder und Igel vernimmt. Aus deren Bewegungen, Blicken und Umrissen schöpfte Vera Kattler in ihren Kohlezeichnungen. Doch dazu gehörte zunächst die Frage, was sehe ich alles nicht bei einem Blick aus dem Fenster in das Dunkel? Und was erfahre ich erst, wenn ich nach draußen gehe und dort auf berührende Spiegelungen von Gedankenbildern und emotionalen Hinterlassenschaften treffe, in ihre schöpferischen Impulse hineinlausche und Erscheinungsformen destilliere, variiere, verdichte und austreiben lasse…
Die tierische Projektionsfalle wird dabei keineswegs weggeblendet und was da alles in den Anblick von Vier- und Zweibeinige Hausgenossen, beflügelten Gefährten, Zoobewohnern und spektakulären Exoten an Stimmungen hineingelesen wird. Vera Kattler lässt diese Zuschreibungen auch zu, weil sie an den animalischen Wesen haften, in die sie in ihren Arbeiten mit Kohle, Feder, Tusche und Zeichenstift vordringt und dabei immer wieder insistiert. So entwickeln sich ihre Arbeiten vor allem in Serien von Bewegungen und Bewegtheiten, wenn sie vom „Sammeln des Flügelschlags“ erzählt und „unklare Verwandtschaften“ oszillierend erkundet, sich von einem Tapir ebenso nachhaltig beflügeln lässt wie von einer Krähe.
Jeder Ausstellungsraum beherbergt eine Serie, die sich als vielstimmige Partitur darstellt. Die Motive mäandern über die Wände und meistens verweigern sie auch dieser typischen Sehhorizontline, damit der betrachtende Blick ebenfalls mäandert, die Ansicht von der Seite riskiert, die nach oben und die nach unten, geradewegs oder auch in Schieflage, gebückt oder aufrecht….
Vera Kattler macht dabei auch ihre Wahrnehmungsbeobachtungen und Erfahrungen zum Thema. Wenn sich mit dem Moment der Verfremdung eines Körpers bereits der nächste Verfremdungsimpuls ankündigt… wenn eine Geste sich ballt oder zuspitzt, eine Bewegung sich krümmt, buckelt und dabei auch ihren Antrieb verlieren kann. Schon drängt eine andere Bewegung in das pulsierende Kraftzentrum, reibt sich an der Form oder am Kontext und kann dabei auch ins Stolpern geraten, auf Um- und Abwege…
wie sie jede Metamorphose in Entwicklungsprozess durchdringen…. bis es an der Zeit ist, innezuhalten, und den Moment seiner unmittelbaren Wirkung zu überlassen, bis er eine Veränderung im Sujet herausherausfordert und die Aussicht auf einen bislang verborgenen Unruheherd, den die Künstlerin bereits gedanklich vernommen hat, um ihn mit all seinen Unabwägbarkeiten sichtbar und berührbar zu machen.Ihre Affinität zur Poesie mit all den metaphorischen Gedankenbildern und Wortkraftfeldern hat dabei ebenfalls beflügelnde Wirkung Die lässt sich hier besonders in den Bildtiteln für die Serie „Nachts unterm Futterplatz“ erspüren. Bei der „Suche nach dem Schwarz im Schwarz“ und wie das ist, wenn sich alles bewegt und alles stillsteht. In einem mit Gedichten über das Meer und im poetischen Dialog mit dem Lyriker Danielo Pockrandt lässt sich auch das „geheime Strandgut“ erkunden und wie es auf seine Weise in vielen Bildmotiven nachhallt.
„manchmal kann ich / den geschichten in zerbrochenen / schneckenhäusern nachfühlen / in dramatischen wolkenbildern / barocke gemälde bestaunen/ im wind worte hören / die von nichts erzählen / in den wellen / den atem der ewigkeit riechen (…)“
Es tuschelt, raschelt und kräht aus den Wänden und den Säulen im benachbarten Galerieraum. Da fliegen die Fetzen und die Federn in den Nestbauten. Schnäbel hacken sich in die krallengriffigen Vogelkörper, die sich flatterhaft in die luftigen Sphären stürzen und einen hinreißenden Tumult entfachen. Auch das kann bei Vera Kattlers schöpferischen Forschungsreisen passieren, dass eine Serie so abenteuerlich mutiert wie ihre „Krähenformung“. Anders flügge wurden die malerischen Exkursionen und die Linoldrucke als Scherenschnitte auch mit einer Fülle von Papierschnipseln, die sie hinterlassen haben und nun als ebenso zufällige wie eigenwillige Krähenreste ein bewegendes Eigenleben entwickeln… wie sie um die massiven schwarzen Fluginseln schweben, stürzen, gleiten und schwingen und uns als Betrachtende so luftig bestürmen, wie die Galeriewände und die Säulen, an denen sie haften …und das mit wunderbar berauschender Wirkung, Bei ihrem Anblick möchte man abheben und fühlt sich auch nicht länger an die Gesetze der Gravitation gebunden, sondern einfach wunderbar belebend beflügelt.
Sanft beschwingt die Serie mit den Bilderzählungen in Tusche „Vom Sammeln des Flügelschlags“ auch als choreografisches Schauspiel, dass in filigranen Gesten die Momente von Anmut und Grazie malerisch umspielt, die sich auf dem Papier beim Trocknen verfestigen, ohne dabei zu erstarren…. um mit Kaffee, Rotwein und Meersalz belebt, flatterhaft umtriebig den wetterwendischen Zumutungen trotzen, Dellen und andere Verformungen auszuhalten und einfach weiter zu schlagen. Hier könnte auch eine leise Melodie anklingen, die mit jedem Windhauch eine andere Tonfolge zum Schweben bringt, die mit ihren Echos auch die Galeriewände zu durchdringt.
Mit dem Geräusch der kratzenden Feder, wenn sie die weiße Fläche an- und aufraut, die Strichfolge antreibt, die Wendungen und Krümmungen nimmt, und sich immer wieder verknotet, bis es sie weiterdrängt, bahnte sich eine Serie an, für die Vera Kattler in Göttingen auf einen neuen Titel traf, „Vegetationen“.
Sie habe in ihrem Garten gesessen, um Pflanzen zu zeichnen, erzählte mir die Künstlerin. Doch die wollten sich einfach nicht zeichnen lassen. Dann habe sie angefangen vor sich hin zu stricheln, ohne zu ahnen, dass da etwas auf dem leeren Blatt als austreibender Bildkörper Gestalt annehmen würde… bald auch durchdrungen von grünen Farbspuren, die es nicht in eine schlüssig geschlossene Form drängt, sondern in die Freiräume zwischen die schwarzen Strichwendungen. Dort bilden sie Inseln mit weiteren Verwerfungen und Strichen, die es in diesen Sehlandschaften ebenso in die Höhe zu drängen scheint wie in eine uferlose, flüchtige Weite.
Es ist Atmosphäre von Erdung oder auch von Bodenhaftung, die aus diesen Arbeiten spricht, auf die Vera Kattler auch mit ihrer Hängung deutet. Der betrachtende Blick muss sich senken, um sich in die Nahaufnahme zu vertiefen, um dann aus der erneuten Distanz zu erleben, dass die Striche weitermäandern und ein assoziatives Kraftfeld an Formen und Formationen bilden, die in Bewegung bleiben.
Lassen Sie sich im hintersten Ausstellungsraum beäugen von Motiven aus der Serie „Tapirfries“, wie die tierischen Köpfe in Sie hineinzublicken scheinen, sich dabei verschleiern und verschwimmen. Vera Kattler lässt sie keine fassbare Kontur annehmen lässt. Die gönnt sie einem sanft blickenden Wesen, auf dessen Kopf sich vier Ohren zu türmen scheinen, weil sie das beim Anblick einer Fußkralle imaginierte…
eine Traumgestalt, die keiner physischen Zuschreibung bedarf und doch so real anmutet.
Kunst zu machen sei echt ein Abenteuer schwärmt die Künstlerin, in dem neben der Leidenschaft auch der Leichtsinn umtriebig sein möchte, komödiantisch verspielt und gern auch mit einem Augenzwinkern. Auf kleinen Zettel haben sich Zeichnungen und Notizen getummelt, die sich jetzt in gemeinsamen Bilderzählungen wie in einem Comic begegnen und aufmuntern oder auch launig aneckenden. Vera Kattler hat sie für eine kleine Serie collagiert, damit sie sich und uns beflügeln und dabei auch so viel Spaß haben, wie ihre Entdeckerin, die uns hier unterhaltsam beflügelt und bereits nach weiteren Wahrscheinlichkeiten Ausschau hält, während wir uns mit ihren Arbeiten jetzt auf eine inspirierend bewegende Spurensuche begeben können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Tina Fibiger, Göttingen, 21. 4. 2024